Samstag, 24. Mai 2014

Kriegserinnerungen


Ich bin froh, dass ich keine eigenen Kriegserinnerungen habe und ich möchte auch in Zukunft nie welche haben müssen. Aber da zur Zeit so sehr viel an den Auftakt des Ersten Weltkriegs und alle möglichen anderen Kriege, einschließlich zukünftiger erinnert oder gar beschworen wird, fand ich es sehr passend, dass sich das Thema in meiner Erinnerung fest mit George Tabori verknüpft hat, der theoretisch heute seinen 100. Geburtstag feiern würde.
Praktisch hat er nur bis zu seinem 93. durchgehalten.

Tabori habe ich persönlich kennengelernt, als ich noch sehr jung war und mich so oft wie möglich zu den Proben einer der extrem seltenen Inszenierungen von "Pinkville" geschlichen hatte.
Noch immer schallt in meinem Erinnerungsohr der rhythmische Chor der Soldaten:

Bauch rein!
Schultern zurück!
Hand hoch zum Gruß!
Der Oberarm bildet zum Unterarm
einen Winkel von fünfundvierzig Grad.

"Pinkville" ist ein recht gruseliges Theaterstück, in dem Tabori die Greuel des Vietnamkrieges am Beispiel des Massakers von Mỹ Lai anklagte und hat (zusammen mit Peter Weiß' "Die Ermittlung") bestimmt mehr zu meiner politischen Bildung beigetragen, als es der Schulunterricht oder die mehr als mangelhaften Auseinandersetzungen mit meinen Eltern vermochten.
Hier ein Ausschnitt aus einem Spiegel-Artikel von 1971, der den Inhalt kurz und knapp beschreibt:

"Tabori will (...) zeigen, daß Drill den Mann zur willenlosen Kampfmaschine "ummontieren" kann.
Das geht ganz einfach, demonstriert Tabori in zwölf "Lektionen". Es geht mit Zynismus, Brutalität und der Ausbildungsordnung jener US-Marinesoldaten, die sich gern als "beste Kampf- Organisation der Welt" bezeichnen.
Nach diesem Reglement wird Taboris Held, ein Jerry O'Carey, gedemütigt, geprügelt, eingesperrt, verhöhnt; er desertiert, er versucht sich umzubringen, erliegt am Ende doch der Seelen- und Gehirnwäsche sadistischer Driller und gibt den Befehl: "Nichts darf übrigbleiben, was lebt!"

Für seine "Lektionen", die durch Songs in der Art von Brecht verbunden werden, hat Tabori Material aus Dienstvorschriften, Ausbildungs-Reports aus dem Calley-Prozeß und GI-Underground-Zeitschriften ausgewertet. Das Resultat: eine grausige Groteske über die Obszönitäten des Krieges."



PS: Inspiriert wurde Tabori zu seinem Theaterstück unter anderem dadurch, dass die veröffentlichten Kriegsreporter-Fotos erschreckend ästhetisch anzusehen waren. Mit der Kritik der "Ästhetisierung" musste er sich dann nicht nur selbst, sondern natürlich auch beispielsweise schon vorher Peter Weiß oder später F.F. Coppola (Apokalypse Now) wegen ihrer jeweils recht speziellen Darstellung von Krieg, Massaker und den dazugehörigen Kollateralschäden auseinandersetzten.

PPS: Wer "Die Ermittlung" nicht kennt, kann auf der oben verlinkten Seite weiter nach unten scrollen und findet dort einige Ausschnitte.

PPPS: Ich finde, Pinkville ist ein ideales Theaterstück für Schüleraufführungen. Wer Interesse am Text hat, wendet sich an den Kiepenheuer Bühnenvertrieb.
 

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