Montag, 9. November 2009

Wo warst du, als...

...die Mauer geöffnet wurde?
Im Bett mit 39,5° Fieber.
Und wie fandest du das?
Komatös.

Der Westberliner ansich wird ja eigentlich auch nicht gefragt, wie ers fand. Weder das Aufwachsen und Leben mit Mauer* - das wird völlig ignoriert - noch was er am 9. November so dachte... Da hat er ausschließlich politisch korrekt zu antworten, und deshalb braucht man ihn nicht fragen.

Aber wenn ich mehr dazu erzählen darf, beginne ich ungefähr ein halbes Jahr vorher. Im Mai 89, als in der DDR so langsam alles hochzukochen begann, aber niemand mir bekanntes im Westen auf die Idee kam, dass die Mauer eingerissen werden könnte. Die, die andauernd von den bedauernswerten "Schwestern und Brüdern in der Zone" redeten, waren für uns sowieso nur Heuchler, die sich in Wahrheit nichts mehr wünschten, als dass die Mauer geschlossen bliebe. Ich befand mich gerade in einer Ausbildung und eine Soziologie-Dozentin fragte: Wie fändet ihr das, wenn jetzt die Mauer aufginge?
Die meisten schauten etwas verwundert sprachlos und konnten mit der Frage nichts anfangen. Dreien entgleisten die Gesichtszüge - sie waren vor kurzer oder längerer Zeit unter schwierigen Umständen aus der DDR geflüchtet, ausgewandert oder rausgeschmissen worden - was sie uns aber erst nach diesem Schultag genauer erzählten.
Und in die erstarrte Situation hinein sagte ich dann: Das ist Quatsch, man kann die Mauer nicht mal eben so wegnehmen und dann is Eierpopeia. So einfach geht das ja wohl nicht, denn schließlich haben sich ja da zwei völlig verschiedene.... usw. usw. Nach dieser Ansage kam dann noch eine, wenn auch zögerliche Diskussion zustande. Die ernstgemeinte Phantasie einer bevorstehenden Wiedervereinigung hatte allerdings niemand.

Im Spätsommer oder Frühherbst, zu einer Zeit, wo die Rosen noch in prächtigster Blüte stehen kam in der täglichen Morgensendung des SFB2 ein Beitrag mit einem Reporter, der sich gerade im Garten eines Bewohners am Rande von Staaken-Gartenstadt befand. Der Bewohner regte sich entsetzlich darüber auf, dass über Nacht die DDR-Grenzpolizisten damit angefangen hätten, die Mauer einzureißen, ausgerechnet bei seinem Garten haben sie damit angefangen und nun seien seine ganzen Zuchtrosen zerstört. So ginge das schließlich nicht und überhaupt!
Nach ein, zwei Musikeinspielern und ca. 22 Myriaden Anrufen in der Redaktion wurde die Zuhörerschaft an den Radioapparaten aufgeklärt, dass es sich um eine fiktive Reportage gehandelt habe und dass man nur mal habe sehen wollen, wie der Westberliner so reagiert...

Als ich dann am Abend des 9. November fieberkrank im Bett lag, bei laufenden Programm dahindämmerte und erst bei den Nachrichten wieder wacher wurde, als es hieß "Die Mauer ist auf", dachte ich nur 'Was für ein Quatsch! Mit dem Thema macht man keine Späßchen!'
Einen Moment später stutzte ich und dachte 'Ach Du Scheiße!' und dann 'Naja, jetzt kann wenigstens niemand mehr sagen: Geh doch in'n Osten, wenn's dir hier nicht passt!'
Halbwegs geglaubt habe ich es aber erst am nächsten Tag.

Ja, so war's.

Und erst drei Tage später, immer noch einigermaßen krank, hab ich's mir dann mit eigenen Augen angesehen. Am Potsdamer Platz in der Nacht.

Und danach fiel mir erst ein, Fotos zu machen.
Mein peinlichstes Lieblingsfoto:
DDR-Bürger stehen frierend in langer Schlange an, um sich aus einem Lastwagen heraus von einem türkischen Herrn je vier rosa Begrüßungsnelken schenken zu lassen.
Dann gingen sie weiter und stellten sich an einer Gulaschkanone an, um Linsensuppe oder einen Becher Kaffee entgegenzunehmen.
Beim Essen und Trinken waren die Blumen im Weg.
Deshalb lagen sie später am Tag welk und zertreten auf dem modderig kalten Boden des Lenné-Dreiecks.

Und dann waren ein halbes Jahr lang sämtliche Bahnen und Busse dauerverstopft, beim Einkaufen musste man hinter der Kasse gut seinen Einkaufswagen festhalten, sonst konnte er schnell von Menschen, denen das zum Teil mehrfach abgeholte Begrüßungsgeld immer noch zu wenig war, geklaut werden und ich kriegte zum ersten Mal in meinem Leben einen längeranhaltenden Appetit auf Bananen.

PS: Heute feiert die (leider nicht neuköllnische) Scheinbar ihren 25. Geburtstag, aber dazu morgen mehr.

*) Übrigens, vielen Dank Herr Broder, der Sie neulich im Radio laut betonten, dass Ihnen Westberlin völlig am Arsch vorbeigegangen sei (Ihr genauer Wortlaut blieb bei mir nicht haften, war aber vergleichsweise achtungslos). Das stärkt den Bezug zur eigenen Geschichte und Herkunft ungemein! Ich muss mal drüber nachdenken, ob mir Katowice möglicherweise auch völlig Schnurz ist, mitsamt aller Menschen, die dort aufgewachsen sind...
Vielen Dank für den Denkanstoß.

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